Vom BIP zum Systemgesundheitsindex

Warum unsere wichtigste wirtschaftliche Kennzahl veraltet ist und was sie ersetzen sollte.
Stellen Sie sich vor, Sie steuern ein komplexes Verkehrsflugzeug. Aber auf Ihrem Armaturenbrett gibt es nur eine einzige Anzeige: die Geschwindigkeit. Sie kennen weder den Treibstoffstand noch die Höhe, den Zustand des Triebwerks oder das Wetter draußen. Sie fliegen einfach so schnell Sie können. Absurd? Doch genau so verwalten wir seit 80 Jahren unsere Volkswirtschaften und vertrauen blind einem einzigen Indikator – dem Bruttoinlandsprodukt (BIP).
Das BIP wurde in der Ära der Industrialisierung geschaffen, um die Produktionsleistung eines Landes zu messen. Diese Aufgabe hat es hervorragend erfüllt. Aber die Welt hat sich verändert, unser wichtigstes Instrument jedoch nicht. Heute führt das Streben nach BIP-Wachstum um jeden Preis zu ökologischen Katastrophen, sozialer Spaltung und geistiger Erschöpfung. Es ist Zeit anzuerkennen: Unser Kompass ist kaputt. Wir brauchen ein neues „Armaturenbrett“ – einen Systemgesundheitsindex (SGI), der das wahre Wohlergehen einer Nation widerspiegelt und nicht nur ihr Konsumtempo.
Die sieben Todsünden des BIP
Das BIP ist nicht nur unvollständig – es ist aktiv irreführend und fördert destruktives Verhalten. Hier sind seine wichtigsten Mängel:
- Das BIP unterscheidet nicht zwischen „gut“ und „schlecht“. BIP-Wachstum wird durch alles erfasst, was für Geld produziert und verkauft wird. Waffenverkäufe, Gefängnisbauten, die Beseitigung von Umweltkatastrophen, die Behandlung von Krankheiten, die durch schlechte Umweltbedingungen verursacht werden – all das steigert das BIP. Eine glückliche, gesunde Nation erscheint aus BIP-Sicht „stagnierend“.
- Das BIP ignoriert die Natur. Das Abholzen eines Urwaldes und der Verkauf des Holzes sind ein Plus für das BIP. Der stehende Wald selbst, der Sauerstoff produziert und Wasser reinigt, hat für das BIP einen Wert von null. Ressourcenerschöpfung und Flussverschmutzung sind externe Kosten, die das BIP nicht berücksichtigt.
- Das BIP sieht unbezahlte Arbeit nicht. Die Arbeit von Eltern bei der Kindererziehung, die Pflege älterer Angehöriger, Freiwilligenarbeit – das ist das Fundament der Gesellschaft. Da diese Arbeit aber nicht bezahlt wird, ist sie für das BIP unsichtbar.
- Das BIP ist gleichgültig gegenüber Ungleichheit. Das BIP kann wachsen, auch wenn alle Einnahmen aus diesem Wachstum an das reichste 1 % gehen und 99 % der Bevölkerung ärmer werden. Für das BIP ist es nicht wichtig, wie der Reichtum verteilt wird.
- Das BIP misst nicht die Lebensqualität. Stressniveau, psychische Gesundheit, Stärke sozialer Bindungen, Sicherheit auf den Straßen, Freizeit – all diese Schlüsselkomponenten des menschlichen Glücks liegen außerhalb des Radars des BIP.
- Das BIP fördert kurzfristiges Denken. Politiker, die auf BIP-Berichte ausgerichtet sind, sind nicht an langfristigen Investitionen in Bildung, Wissenschaft oder Umwelt interessiert, deren Früchte erst in Jahrzehnten sichtbar werden.
- Das BIP berücksichtigt keine Nachhaltigkeit. Ein Land kann ein stürmisches BIP-Wachstum aufweisen, während es riesige Schulden anhäuft oder seine letzten Ressourcen verkauft. Das ist wie ein Sprint zum Rande des Abgrunds.
Das „Armaturenbrett“ der Nation: Das Konzept des Systemgesundheitsindex (SGI)
Der SGI ist keine einzelne Zahl, sondern ein mehrdimensionales Modell, ein „Armaturenbrett“ mit mehreren Schlüsselindikatoren, die zusammen ein ganzheitliches Bild vom Zustand der Nation vermitteln. Es soll die Gesundheit des Systems anhand mehrerer Schlüssel-„Kapitalien“ bewerten.
-
Humankapital (Gesundheit & Wissen)
Indikatoren: Durchschnittliche gesunde Lebenserwartung, Säuglingssterblichkeit, Zugang zu hochwertiger Medizin, psychische Gesundheit (z.B. Depressionsstatistiken), Alphabetisierungs- und Bildungsniveau.
-
Sozialkapital (Vertrauen & Interaktion)
Indikatoren: Vertrauensniveau in der Gesellschaft, Kriminalitätsrate, Anzahl der Freiwilligenstunden pro Kopf, Stärke familiärer Bindungen, soziale Mobilität.
-
Naturkapital (Ökologie & Ressourcen)
Indikatoren: Luft- und Wasserqualität, Biodiversität, CO2-Fußabdruck, Anteil der Schutzgebiete, Erschöpfungsrate nicht erneuerbarer Ressourcen, Anteil erneuerbarer Energien.
-
Wirtschaftskapital (Nachhaltigkeit & Gerechtigkeit)
Indikatoren: Die Qualität des BIP-Wachstums, nicht nur sein Volumen. Einkommensungleichheit (Gini-Koeffizient), Verschuldungsgrad der Haushalte, Arbeitslosenquote, Diversifizierung der Wirtschaft.
-
Institutionelles Kapital (Verwaltung & Freiheit)
Indikatoren: Korruptionsniveau, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Bürgerbeteiligung am politischen Leben, Effizienz der öffentlichen Verwaltung.
Fazit: Von der Geschwindigkeit zur Richtung
Der Übergang vom BIP zum Systemgesundheitsindex ist nicht nur ein technischer Austausch eines Indikators. Es ist ein fundamentaler Wandel der Weltanschauung. Es ist ein Übergang von der Frage „Wie schnell bewegen wir uns?“ zu den Fragen „Wohin bewegen wir uns?“, „In welchem Zustand ist unser Schiff?“ und „Was hinterlassen wir zukünftigen Generationen?“. Die Einführung eines solchen „Armaturenbretts“ wird alles verändern: von politischen Entscheidungen bis hin zur Unternehmensberichterstattung. Es ist Zeit, den Fortschritt nicht mehr in Geld, sondern in Lebensqualität zu messen.
Haben Sie Ideen oder Einwände?
Diskutieren Sie dieses und andere Konzepte in unserer Community. Wir freuen uns auf Ihre Gedanken.
Zur Diskussion